Brief an Alice Bensheimer, 7.9.1914, Hamburg-Blankenese / Seite 1

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Sehr Liebe!
Ich hab mich heut schon so müd geschrieben,dass ich Dir typen
will;eigenhändig,nota bene. Hier wurde neulich in einer Versammlung gesagt,dass nir-
gends solche Not sei,wie bei den Kontoristinnen. Ich habe mich deshalb bereit erklärt
eine ganz zu mir zu nehmen,gegen 3-4 Stunden Arbeit täglich für mich. Hoffentlich fin-
det sie mir eine nette heraus. D.h.,im Grund glaube ich noch nicht,dass ich hier blei-
be. Dehmel erzählte gestern als strahlende Neuigkeit,sein Unteroffizier habe ihm an-
vertraut,sie kämen höchst warscheinlich schon am 12. nach Lüttich,genössen dort ihre
weitere Ausbildung,und würden dann weiter verschickt. Das ist drum möglich,weil D.in
einer Kompagnie ist,die schon 3 Wochen arbeitete ,als D. in sie kam. 8 Tage ist er
dabei;so wäre es normal. Ich halte es für ausgeschlossen,dass ich hier aushalte. Ich
dachte schon,da man überall Klagen über mangelndes Pflegepersonal liest,ob ich nicht
da noch ankommen kann. Einen Pflegerinnenkurs beginne ich übermorgen mitzumachen.
Schaden kann das,was ich jetzt lerne,sicher auf keinen Fall was,und bei einer genau-
en Personalbeschreibung werde ich vielleicht doch noch eher verwendet ,als eine Jun -
ge. Ich bliebe vielleicht hier,wenn ich ganz allein wäre; aber mit meiner Schwieger-
mutter its's nicht gut denkbar. Ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen ,wenn ich
das sage. Es ist wirklich keine Lieblosigkeit. Aber der Altersunterschied und die
Temperamentsverschiedenheit ist so gross,dass ich für die Grösse der Zeit das Maas
verliere,wenn ich bei jedem Gespräch den Maasstab der 82jährigen als Norm ansehn
muss.
Auch Frau Elisa ist mir jetzt nichts. Sie Steht auf dem Standpunkt,es kümmer-
ten sich zu Viele um öffentliche Dinge,die notwendiger für ihre eigne Familie sor-
gen müssten. Ihr Mann ,der ja noch Mitbesitzer einer Hutfilzfabrick in Oberhessen ist,
versucht Alles,seine zahlreichen Arbeiterinnen wenigstens halbtäglich zu beschäfti-
gen. Natürlich ist es richtig,wenn sie jetzt vollständig seine Interessen teilt,abr
sie vergisst so leicht,dass nicht Viele das können. Und in Blankenese selbst ist nichts
zu tun,da auf keinen Fall Verwundete oder Rekonvaleszenten herkommen. Ich führe ja
Dehmels
ganze Correspondenz natürlich,aber das kann ich in Mannheim so gut wie hier
Der Zeitungsbericht über die Centrale ist noch nicht hier; wenn da wirklich eine Ar
beit für mich wäre,das wäre doch zu schön.

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