Brief an Richard Dehmel, 31.5.1898, Ort unbekannt / Seite 2

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vor einigen Tagen ein Büchelchen von Georg Stolzenberg,
Neues Leben‟ (incipit vita nuova?) bekom̄en.
Ich hab es wirklich zweimal durchgelesen. Daß
Stolzenberg
kein Dichter ist, scheint mir zweifellos.
Das ist die echte Sorte „Berliner Lyriker‟. Diese
Sorte ist sich Ih ihrer Bedeutsamkeit für die „Entwicklung
der Lyrik‟ stets bewußt & redet ständig das Publikum
an. In seiner „Selbstanzeige‟ (Sonderabdruck, dem Buch
beigegeben) spricht er in Absatz 5 von „Empfindungen,
die er in eine Form zwingen muß‟!! Von „zeit-
gemäßer Verskunst‟!! Von „von A. Holz geschaffener
Technik‟!! „Letzte Einfachheit das höchste Gesetz‟.—
Gutachten: Es sind Kerls, die keine Spur
von Poesie, Genie, Melodie im Leib haben, aber
offenbar sich interessant machen wollen. Das sie
ganz dürftig sind, machen sie die „letzte Einfach-
heit‟ zum höchsten Gesetz; aus der Not eine Tugend.
Nun: Ich habe eine Anzahl von Gedichten geschrieben,
die äußerlich einige Ähnlichkeit mit der erwähnten
Mache haben. Diese hin- & herschwankende, interjektio-
nale, den Stößen eines unruhigen Blutumlaufs
vergleichbare Form entspricht Gefühlszuständen,

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